Für einen kurzen Moment war mir heute früh die Nüchternheit abhanden gekommen. Als ich den aktuellen X-Beitrag des EU-Abgeordneten Maximilian Krah zu einem Auftritt von Sahra Wagenknecht bei einem Lanz-Jahresrückblick gelesen hatte, musste ich mich schütteln.
Herr Krah wurde in Brüssel isoliert und hat seiner Partei bei der EU-Wahl schwer geschadet. Die AfD bekam weniger Stimmen als im Bundestrend, was für eine Wahlalternative zu den Etablierten mindestens ungewöhnlich erscheint. Jetzt hat der Politiker schon nach wenigen EU-Monaten in Brüssel die Nase voll und ist auf die Bundestagswahl umgeschwenkt.
Dafür hat er sich ein für die AfD ziemlich sicheres sächsisches Direktmandat ausgesucht und in etwa erklärt, er könne sich in der EU wegen der Ausgrenzungen gegen ihn leider nicht richtig entfalten. Was für andere ein Segen ist, ist für Krah zur Belastung geworden, das TikTok-Genie fühlt sich unterbelichtet.
Jetzt also Krah über Wagenknecht via X:
„Jetzt erreicht diese infantile Moralisierung der Außenpolitik also auch das BSW. Die Folgen sind absehbar: BSW < 5%.“
Damit bezieht sich Krah auf einen Auftritt von Sahra Wagenknecht bei Markus Lanz. Auch hier müsste man übrigens mal nachzählen, wie oft Wagenknecht eingeladen war und in welchem Verhältnis das zu den übrigen Parteien steht – insbesondere zur AfD.
Aber darum geht es nicht. Sahra Wagenknecht soll bei Lanz gesagt haben, Putin sei ein Verbrecher. Und darüber regt sich Maximilian Krah auf und meint, das BSW fiele wegen solcher Äußerungen unter die Fünfprozenthürde. Ähnliche Ausfälle von Krah kommen regelmäßig vor Wahlen. Warum eigentlich?
Ich höre das Geheule der Fanboys von Krah schon: Aber er habe doch Recht! Hat er nicht. Es sind auch deshalb Ausfälle, weil erst die Gegenprobe zeigt, was Krah tatsächlich meint: Denn wenn die Bezeichnung „Verbrecher“ für jemanden, der einen Krieg angefangen und vom Zaun gebrochen hat – unabhängig von der Vorgeschichte! – falsch ist, welche Zuweisung ist dann richtig? Putin ist ein Friedensstifter?
Was steht auf dem Abrechnungszettel gegenüber von „Verbrecher“? Und was möglicherweise in der Grauzone zwischen diesen beiden Begriffen? Besonnener Teilzeitkrieger? Nachdenklicher Regionalbereiniger? Lupenreiner Demokrat?
Was Krah in seiner Kurzintervention via X hinten runterfallen lässt, ist die Tatsache, dass Frau Wagenknecht bei Lanz präzise differenziert hat. Liegt‘s an den erfolgreichen TikTok-Formaten? Tut sich schwer mit Differenzierungen, wer in Brüssel einen Maulkorb bekommen hat? Wahlkamopfgetöse?
Krah geht hier stellvertretend für die AfD mal wieder ein hohes Risiko ein. Die AfD hat sich seit Beginn des Ukrainekrieges friedensbewegt inszeniert. Und die AfD sollte immer wieder erklären, warum es einen Unterschied macht, für den Frieden und kein Kriegstreiber zu sein bzw. kein „Putinversteher“. Eigentlich ist es ganz einfach: Wer für den Frieden ist und gegen Krieg, der muss Putin selbstverständlich für einen Verbrecher halten. Da gibt es für einen friedensbewegten Menschen keine Zwischentöne!
Putin hat den Weg des Krieges gewählt und nicht den des Friedens. Dafür sind mittlerweile geschätzt weit über eine halbe Million junge Männer gestorben. Das ist im 21. Jahrhundert wahrlich ein Grund, an der Menschheit ansich zu zweifeln. Hier geht es zunächst einmal um etwas Grundsätzliches. Für jeden friedensbewegten Menschen ist Krieg keine Ultima Ratio, kein letzter Ausweg! Vollkommen unabhängig davon muss man natürlich auf die Vorgeschichte dieses Konfliktes schauen.
Maximilian Krah wischt das einfach weg, es sei eine „infantile Moralisierung“. Das ist unanständig. Und durchsichtig, wo es so Trivial-Nietzsche sein will. Krah hat seinen zerfledderten Nietzsche aus dem Napola-Tornister geholt und fands bequem, sich über die Moralvorstellungen der anderen zu erheben. Das Moral und Ethik wichtiger Treibstoff einer intakten Gesellschaft sind, darf dann mal am Wegesrand liegen bleiben.
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Wagenknecht hat Putin einen „Verbrecher“ genannt und Krah macht dicke Backen. Schaut man allerdings, was die Chefin des BSW bei Lanz genau gesagt hat, dann wird deutlich, was Krah da treibt. Wagenknecht sagte:
„Ich verurteilte diesen Krieg. Ich halte Politiker, die Kriege beginnen – und das gilt auch für Wladimir Putin – für Verbrecher.“
Alles daran ist richtig. Denn es schließt explizit auch jene Politiker und Schattenkrieger mit ein, die Kriege anderweitig befeuern. Beispielsweise, indem sie über ein Jahrzehnt hinweg alles dafür getan haben, dass es zwischen Russland und der Ukraine keine diplomatischen Lösungen gibt.
Was aber mindestens ebenso wahr ist: Wer immer wieder behauptet, dass Putin keine andere Wahl bliebe, der ignoriert hier das Recht der Ukrainer als Volk, selbst zu bestimmen, welches Wertesystem und Gesellschaftsmodell für sie das richtige ist. Dabei ist es dann vollkommen unerheblich, ob der Westen auf aggressive Weise für sich Werbung macht. Es geht um das Ideal einer Selbstbestimmung der Völker.
Natürlich ist auch die Behauptung, in der Ukraine werden die Werte Europas verteidigt, ein propagandistischer Blödsinn. Vor dem Ukrainekrieg wäre niemand in unseren Breiten auf die Idee gekommen, die Ukraine sei selbstverständlicher Teil des Wertewestens. Aber genauso wenig kann es richtig sein, die Ukraine unverrückbar als Teil einer Einflusssphäre Russlands zu verstehen. Das Ende des Kalten Krieges wurde mit der untergehenden Sowjetunion verhandelt. Und das ist bald 35 Jahre bzw. über eine Generation her.
War das Ukraine-Engagement der USA bzw. des Westens Imperialismus? Auch diese Frage gilt es zu beantworten. Die Ukraine pauschal als Einflusssphäre Russlands zuzuordnen und sich dabei auf alte Übereinkünfte zu stützen, ist für eine Einschätzung der Lage jedenfalls definitiv zu dünn.
Was Krah in der Kürze seines X-Kommentars unterschlagen hat: Wagenknecht hat die Entscheidung verteidigt, mit ihrer Partei den Bundestag verlassen zu haben, als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dort eine Rede hielt. Sie habe darin keinen Sinn gesehen, eine Debatte sei gar nicht möglich gewesen, und für „Standing Ovations“ für Selenskyj sei man nicht bereit gewesen. Was soll daran falsch sein?
Es ist vor allem eines: Es differenziert! Es zeigt eine Nachdenklichkeit jenseits der Sprüche aus der TikTok-Welt eines Maximilian Krah, die der AfD schon so viel Schaden zugefügt haben. Ja, nur zur Sicherheit: Ja, ganz fein, was Krah da in Comic-Sprache auf TikTok macht. Er hat verstanden, dass es aktuell bei jungen Leuten eine Renaissance der 1990er Jahre gibt und bedient das erfolgreich mit seiner Abi-95-Attidüde.
Aber gestaltende Politik ist eben nicht der Hammer auf dem Amboss. Krah ist hier ganz nah bei bestimmten Lautsprecher-Podcastern. Scharfe kluge Köpfe.
Lautstärke ist das Mittel der Wahl, auf ein Problem aufmerksam zu machen. Aber die Probleme liegen längst auf dem Tisch. Ein leiser Ton setzt sich am Ende durch, wenn er brillant formuliert ist. Und Maximilian Krah hat als kluger Kopf das Potenzial, brillant zu sein. Deshalb ist es doppelt bedauerlich, dass ihm sein Ego immer wieder denselben Streich zu spielen scheint.
Stellvertretend dafür die Idee, er müsse jetzt in den Bundestag, weil ihm in Brüssel die Entfaltungsmöglichkeiten genommen wurden. Aber was ist das für ein Statement gegenüber seinen EU-Wählern?
Wagenknecht bei Lanz: Die BSW-Gründerin sagt in etwa, jeder Kriegstreiber und Kriegsherr sei ein Verbrecher. Und sie sagt differenziert, dass der Westen eine Mitverantwortung für den Ukrainekrieg trage, die westliche Einflussnahme in der Ukraine die Kriegsgefahr erhöht habe und der Krieg vermeidbar gewesen wäre, wenn man Russlands rote Linien, insbesondere das Verbot westlicher und US-Militärpräsenz an der russischen Grenze, respektiert hätte.
Das ist alles andere, als eine „infantile Moralisierung“. Es ist vor allem ein Gesprächsangebot, das Krah hier einfach liegen lässt. Ironie der Geschichte: Krah ist in der Sache viel näher an Wagenknecht, als an Merz, Kiesewetter oder Hofreiter. Aber Krah ist auch kein Mann des Friedens. Er weiß genau, dass er sich den Wählern nicht als gläubiger Pazifist verkaufen kann.
Seine TikTok-Zuschauer warten längst sehnsüchtig darauf, dass sich Maximilian Krah das Hemd auszieht, sich auf seine gestriegelte Stute setzt und wie Putin mit nacktem Oberkörper in die untergehende Sonne reitet.
Sahra Wagenknecht sitzt derweil bei Lanz und erzählt aus einer Welt, die längst untergegangen ist. Das wäre mal ein Angriffspunkt für Krah gewesen! Wagenknecht und Lafontaine sind nämlich nicht deshalb Dinosaurier, weil sie für den Frieden sind. Sie sind es, weil sie in der Vergangenheit leben, in einer Zeit, als der Mathias Rust mit seiner Cessna auf dem Roten Platz landete und mit diesem friedlichen Husarenstück für Furore sorgte.
Moskau, Moskau, wirf die Gläser an die Wand, Russland ist ein schönes Land, ho-ho-ho-ho-ho, hey …
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Author:
Alexander Wallasch