„Entschuldigung, aber in Ihrem Artikel fehlt ein Komma in Ansatz 3, Zeile 2 nach „alles“. Und das Zitat aus ‚Faust‘ ist falsch. Goethe schrieb …“
Ich gestehe es offen: Wenn ich nach einem aufreibenden Tag solche Leserhinweise bekomme, erwischt mich meist eine Mischung aus Bewunderung und Verzweiflung. Bewunderung, weil es beeindruckend ist, wie genau manche Menschen Texte lesen – und Verzweiflung, weil ich mir denke: Himmel, wir diskutieren über politische Missstände, Demokratieverlust und gesellschaftliche Spaltungen – und was bleibt hängen? Ein falsch gesetztes Komma. Oder ein mit künstlerischer Freiheit, aber dadurch eben nicht wortgetreu wiedergegebener Goethe.
Ich gebe zu: Akribie gehört nicht zu meinen größten Stärken. Bei mir schleichen sich Rechtschreibfehler ein – nicht absichtlich, aber ich konzentriere mich lieber auf Inhalte, auf die Botschaft, aufs Wesentliche. Das mag man bedauern, aber ich sage: Wer absolute Fehlerlosigkeit will, ist wohl eher bei jenen großen Medien gut aufgehoben, die Milliarden an Zwangsgebühren und Steuergeldern zur Verfügung haben, um professionelle Fehlerkorrektoren anzustellen – wobei selbst dort regelmäßig Fehler durchrutschen, die manchmal noch viel haarsträubender sind.
Aber viele Deutsche lieben eben Perfektionismus und Fehlerfreiheit. Nicht wenige haben geradezu ein erotisches Verhältnis zu Kommaregeln und Grammatikfallen entwickelt. Wahrscheinlich würden manche Deutsche, wären sie damals auf der Titanic gewesen, mitten im Untergang des Schiffes noch kritisieren, dass der Funker den SOS-Ruf grammatikalisch falsch formuliert oder das Notsignal in einer falschen Tonlage gesendet hat.
Ähnlich verhält es sich mit der Deutschen Bahn: Wenn der Zug mal wieder mit einer Stunde Verspätung einfährt, beschwert sich der deutsche Fahrgast nicht selten zuerst darüber, dass der Schaffner „Willkommen in Münschen“ statt „Willkommen in München“ gesagt hat.
Wir lachen, aber eigentlich ist es ernst: Perfektionismus ist zur deutschen Volkskrankheit geworden, zur nationalen Neurose. Statt uns über gute Ideen, treffende Analysen oder mutige Kommentare zu freuen, stürzen wir uns mit Feuereifer auf minimale Fehler. Als wäre das Wesentliche Nebensache – Hauptsache, das Komma sitzt, die Grammatik stimmt und die Zitate sind akkurat. Sonst schlägt bei uns sofort das schlechte Gewissen zu: „Nein, wie peinlich, was werden bloß die Nachbarn denken!“
Natürlich hat Gründlichkeit Deutschland groß gemacht, und ich weiß, dass ich in dieser Hinsicht noch Luft nach oben habe. Doch wo genau hört gesunde Gründlichkeit auf – und wo fängt die typisch deutsche Korinthenkackerei an? Wo wird aus Genauigkeit plötzlich neurotische Pedanterie?
Wenn ich nach einem langen Tag einen Artikel veröffentliche, von dem ich glaube, dass er ins Schwarze getroffen hat, und dann meldet sich sofort der erste Leserkommentar: „In Zeile 15 fehlt ein Komma“ – dann frage ich mich, ob wir vor lauter Kleinkariertheit den Blick für das Wesentliche verloren haben.
Es ist nicht nur ein deutsches Phänomen, aber in Deutschland hat es Hochkulturstatus. Die Russen, bei denen ich viele Jahre lebte, gehen damit ganz anders um: Sie lachen herzlich über solche Kleinigkeiten. Wenn ein Russe darauf angesprochen wird, dass er Dostojewski falsch zitiert hat, antwortet er: „Dann wäre Dostojewski bestimmt stolz, dass wenigstens jemand noch über ihn spricht.“
Viele Deutsche hingegen reagieren auf solche Fehler so empört, als hätte Goethe höchstpersönlich uns die Faust ins Gesicht geschleudert.
Dabei frage ich mich manchmal schmunzelnd, wie viel Lebenszeit manche Menschen wohl investieren, um in Artikeln, die ihnen nicht gefallen, Rechtschreibfehler zu suchen – als ob sie eine tief verborgene innere Freude daran haben, anderen beim Fehlermachen zuzusehen.
Ja, Fehler passieren – mir sogar öfter als mir lieb ist. Aber wichtiger als Perfektion ist für mich, mit Herz und Leidenschaft den Finger in Wunden zu legen, Missstände anzuprangern und Denkanstöße zu geben. Wer Fehlerlosigkeit erwartet, der wird bei mir enttäuscht – aber wer leidenschaftliche Debatten will, ist hier goldrichtig.
Vielleicht täte uns Deutschen gut, gelegentlich entspannt zurückzulehnen und ein bisschen großzügiger zu sein – mit anderen und mit uns selbst. Weniger Perfektionismus und mehr Mut zum Risiko, mehr Offenheit für neue Gedanken, anstatt alte Rechtschreibfehler aufzusammeln.
Denn bei aller Liebe: Der Untergang der Titanic ist sicher nicht daran gescheitert, dass der Funker eine grammatische Unsauberkeit begangen hat. Sondern daran, dass manche Menschen den Eisberg nicht sehen, weil sie gerade noch den Fehler im Notruf korrigieren.
Also lassen wir ein Komma ruhig einmal falsch stehen. In Wahrheit ist die Welt dadurch nicht schlechter geworden.
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