Unsere Route: Aus dem Westharz über Berlin ins brandenburgische Frankfurt und von dort aus über die Oder nach Słubice, der früheren Dammvorstadt von Frankfurt (Oder). Acht Uhr am Morgen. Die A2 Richtung Berlin ist bis kurz vor der Hauptstadt kaum befahren. Auf der Gegenspur stauen sich allerdings Massen von polnischen LKWs. Was haben sie geladen? Oder fahren sie leer und kommen später vollbeladen zurück?
Statista schreibt dazu:
„Im Jahr 2023 exportierte Polen Güter im Wert von 91,3 Milliarden Euro nach Deutschland. Den höchsten Exportwert mit über 14 Milliarden Euro erreichte die Güterabteilung der elektrischen Maschinen und Geräte.“
Aber wie ist es umgekehrt? Deutschland exportierte im Jahr 2024 Waren im Wert von 93,8 Milliarden Euro nach Polen. Hier hält sich die Einfuhr demnach die Waage. Aber wo sind jene LKWs, die deutsche Waren nach Polen fahren? Oder wickelt Deutschland seinen Warenverkehr über die Schiene ab? Ein paar Autotransporter sind unterwegs.
Helmstedt-Marienborn – die sich erinnern, fahren nicht achtlos daran vorbei. Hier war vierzig Jahre lang die deutsch-deutsche Grenzübergangsstelle. Ein düsterer, ein beklemmender Ort. Auf DDR-Seite waren etwa eintausend DDR-Grenzsoldaten, Zöllner, Stasi-Mitarbeiter und Zivilangestellte tätig. Auf dem Weg zurück gab es für generell mit einer Reiseerlaubnis ausgestattete DDR-Rentner in Helmstedt einen warmen, starken Bohnenkaffee gratis. Der Westen wollte einen guten Eindruck machen und auch ein bisschen angeben mit dem aufgebrühten Aldi-Gold aus der Blechdose. Den Geruch von Bohnenkaffee als Sehnsuchtsmarke gibt es heute an jeder Tankstelle to go, zum Mitnehmen im Pappbecher mit Holzlöffel im Milchschaum für 3,50 Euro. Ältere rechnen um: „Das sind ja 7 Mark!“ und kaufen trotzdem.
In Marienborn ist eine Erinnerungsstätte untergebracht, die regelmäßig zu Jubiläen der Teilung in den Medien Beachtung findet, ansonsten aber dahindämmert. Man fährt halt einfach daran vorbei, ist geschäftig unterwegs, es liegt wie eh und je an der Strecke, hier hält man nicht an, es gibt auch keinen McDonald’s.
Strahlend blauer Himmel, keine einzige weiße Linie am Himmel, die Urlaubsflieger starten wohl erst später oder fliegen eine andere Route.
Berlin hatte auch seine innerdeutsche Grenzkontrolle. Die Überreste blättern unbeachtet vor sich hin. Die Peripherie Berlins macht den Eindruck, als sei nach der Loveparade nicht mehr viel passiert. Außer vielleicht, dass immer nur noch mehr fremde Glücksritter hier antanzten, um für immer zu bleiben.
Wir verlieren eine Stunde, weil wir noch einen Kollegen aus Moabit abholen, der Berliner Stadtverkehr wird grundsätzlich zur unfreiwilligen Sightseeing-Tour. Wer sich zum ersten Mal Richtung Polen auf den Weg gemacht hat, der staunt sicher über die geringe Entfernung der deutschen Hauptstadt zur polnischen Grenze.
Nach gerade einmal etwas mehr als einhundert Kilometern erreichen wir die ersten freistehenden Häuser als Vorboten von Frankfurt (Oder). In der Mai-Sonne strahlen die roten Ziegeldächer doppelt so stark, und man könnte fälschlicherweise annehmen, hier hätten alle gleichzeitig neu eingedeckt. Schwarze Solarplatten sind seltener, hier lässt man sich die Sonne einfach ungenutzt auf die Mütze scheinen und betreibt nicht gleich Küchenherd und Fernsehen damit.
Die DDR ist gegenwärtig, aber nicht gegenständlich. Sie offenbart sich durch die Menschen. Eine kurze Anfrage aus dem Auto heraus wird lässig, desinteressiert und freundlich beantwortet: „Biegen Sie links ab, dann einfach geradeaus, Sie fahren direkt auf die Stadtbrücke zu.“
Die Brücke hinüber ins polnische Słubice ist so blau wie das „Blaue Wunder“ über der Elbe bei Dresden, nur viel weniger opulent, zwei stabilisierende Bögen, und fertig ist die Chose, bloß kein Heckmeck.
Auf deutscher Seite steht zwischen den beiden Fahrbahnen ein an beiden Seiten offenes, stabiles weißes Zelt. Hier besteht die Möglichkeit, Fahrzeuge rauszuwinken, wenn ein Kontrollgrund zu offensichtlich wird oder einfach nur mal so. Ein paar Beamte stehen gelangweilt. Es ist Mittag an einem Dienstag im Mai. Nichts deutet darauf hin, dass sich hier größere Dramen abspielen, seit der neue Bundesinnenminister seinen Grenzschutz gleich nach Amtsantritt angewiesen hatte, in ganz Deutschland die illegale Massenmigration zu beenden.
Ende 2023 vermeldete die Tagesschau noch, Polen habe sich zum Drehkreuz für irreguläre Migration nach Deutschland entwickelt. Die Balkanroute verlaufe über Polen, und Russland schicke Migranten in Richtung EU. Davon ist im brandenburgischen Frankfurt (Oder) heute nichts zu sehen. So wie man in beiden Städtchen diesseits und jenseits der Oder keine syrischen oder afghanischen Flüchtlinge antrifft. Ist die sächsische Grenze zu Polen betroffen?
Seit Januar sollen laut Auskunft des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mehr als 50.000 Zuwanderer in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben. Davon etwa 20.000 Syrer und Afghanen. Brandenburg ist hier, gemessen an den Antragzahlen, eher ein Schlusslicht mit 1.420 Antragstellern, was etwa drei Prozent ausmacht. Bayern und Nordrhein-Westfalen liegen hier zusammengenommen etwa zehnmal so hoch.
Gemessen an älterem Bildmaterial im Netz führt die Oder aktuell nur wenig Wasser. Weit auslaufend erstrecken sich Sandbänke in den Flusslauf. Wer darauf ein paar Meter laufen mag, der entdeckt im feuchten Sand in der Sonne weißkalkig gewordene Muschelschalen wie am Meer.
Wir nehmen in einer polnischen Polaris-Plastikwasserflasche Oderwasser mit und wollen es dem Großvater aufs Grab gießen. Er badete nahe Breslau gern in der Oder. Dort am Ufer wurde gezeltet, Kähne fuhren vorbei, von denen junge Frauen grüßten, die schon wenig später Lust aufs Zelten bekommen haben. Aber viel mehr darüber, was an der Oder passierte, erzählte der Opa nicht. Was Aufregendes an der Oder passierte, blieb in diesem Fall für immer an der Oder.
In Słubice auf der polnischen Seite stehen ein paar einzelne Gründerzeit-Häuser oberhalb des Ufers. Aus ihnen heraus werden überwiegend Zigaretten verkauft. Nebenan bietet „Ania“ für zwölf Euro Frisuren an. Und wenn man vom Fluss weg in den Ort hineinfährt, werben Zahnärzte für ihre Dienste. Hier fehlen nur noch die Haartransplantationen, aber dieses Geschäft haben die Türken übernommen. Wer obenrum aufforsten will, der fährt zu Erdoğan und verbindet den Berlusconi-Gang mit einem Kurzurlaub.
„Second Hand from London“ steht an einer der Häuserwände und im Fenster „All you need is love“. Unser Berliner Begleiter singt später „Imagine all the people“ und legt dazu eine Rose vom Edeka für 1,99 Euro am russischen Ehrenmal in Küstrin-Kietz ab. Für Reisende ist in dieser Gegend vieles politisch. Und wer empfänglich ist, der lässt sich anstecken: „It’s easy if you try, no hell below us, above us, only sky“.
Und immer noch keine weißen Streifen am Himmel, die trockene Erde grau, die saftigen Felder grün, darüber alles hellblau. Etwas abseits auf einer Sandbank der deutschen Oderseite wedelt ein Schatzsucher sein Metallsuchgerät unermüdlich rhythmisch hin und her. Wir gehen neugierig hinunter, fragen nach. Aber deutsche Geschichte bleibt heute verborgen: keine Münzen, kein Nichts. „Gott sei Dank auch keine Kriegsmunition“, erfahren wir noch. Das Land wurde hier zur Genüge geimpft, ein hart umkämpftes Plätzchen. Vor 80 Jahren, als alles vorbei war, blieb von Frankfurt beiderseits der Oder nicht viel mehr über, alles rauchende Trümmer.
Wir fahren ein paar Kilometer nach Polen hinein, um dort womöglich eine Spur von illegaler Zuwanderung zu entdecken, aber es gibt nichts zu sehen. Überraschend sind allenfalls die vielen Neubauten im Hinterland. Auf polnischer Seite wird mehr gebaut als auf deutscher. Die Ostdeutschen scheinen nach den blühenden Landschaften erst einmal eine längere Baupause eingelegt zu haben, oder sie sind einfach von hier weggezogen. Zur Wiedervereinigung 1990 lebten in Frankfurt (Oder) über 85.000 Menschen, heute sind es bald 30.000 weniger.
Wir fahren an einer ganzen Reihe alter Backsteinbauernhöfe vorbei. Hier endeten oft jahrhundertealte Familiengeschichten abrupt. Autor Gregor Leip denkt laut darüber nach, wie das gewesen sein muss, seine Sachen in 24 Stunden zu packen und nie mehr wiederzukommen. Der Verlust der Heimat war für Millionen Polen der Beginn einer neuen Heimatgeschichte. Wie mag es sich angefühlt haben, das Fremde in Besitz zu nehmen, oft bis hin zum Besteck in der Schublade und den Laken auf den Matratzen? Bald weht ein Jahrhundert über diese Frage.
Am Grenzübergang Küstrin sind die drei Grenzschützer nicht überlastet. Hier staut sich der Verkehr allerdings in die Gegenrichtung nach Polen hinein. Aber das liegt am Feierabend und den heimkehrenden polnischen Arbeitern, die EU macht es möglich. Sind das die neuen Bauherrn der schmucken Häuser im Hinterland?
Wir haben Hunger bekommen und fahren noch einmal zurück nach Słubice und entdecken mit dem „Bazar“ eine magische Welt für sich. Eine Art große Markthalle, nach oben überdacht von einer über Jahrzehnte hinweg angelegten bunten Sammlung von Sonnen- und Regenschutzkonstruktionen, die schon so wild miteinander verwachsen und verwoben sind, als wäre es ein lebender Organismus am künstlichen Himmel oberhalb der Marktstände. Schicht für Schicht – jeder baut halt etwas hinzu, wenn der Regen durchkommt oder die Sonne einmal blendet.
Wir essen Mittag in dieser Kowloon Walled City von Słubice. Wir sind etwas spät dran, aber ganz hinten findet sich noch ein Eckchen, wo der Herd noch an ist. Wir landen unvermittelt im Wohnzimmer einer älteren polnischen Dame, ein Markstand mit Spitzengardinen an den Fenstern und Baumarktstühlen davor.
Unser Berliner Mitfahrer bricht gleich mal mit einem der Stühle zusammen. Die ältere, schlanke Polin eilt aus ihrer Küche, die man von außen nicht einsehen kann. In ihrer Küchenschürze ist sie ganz fürsorglich, trägt eine Schleife im blondierten Haar und ist Sternzeichen Krebs, wie unser Mitfahrer erfährt. Er hatte gefragt. Für so viel Nähe bekommen wir jeder eine Kostprobe vom Bigos – einem Sauerkrautgericht – gratis und nehmen später für acht Euro noch pflichtschuldig einen Kilo-Eimer davon mit.
Wir essen in der gewerblichen Datscha einer netten alten Dame, wie in der gemütlichen Gartenlaube bei Oma, nur dass wir nachher dafür bezahlen müssen. Und es erweist sich dann auch nicht unbedingt als Schnäppchen. Aber die Atmosphäre gab es gratis dazu, und niemand störte sich hier daran, dass der Berliner trotz unseres Protestes nach dem Spargel unbedingt noch einen Joint zum Nachtisch rauchen musste. Die alte Dame hatte für sich lächelnd, aber bestimmend abgelehnt, wir hinterließen also eine Duftmarke, zahlten in Euro, aber Polen ist trotzdem noch kein Euroland: Eine Stunde hinter Berlin wird in Złoty bezahlt.
Und dann versteht man wieder ein bisschen mehr, warum Berlin so ist, wie Berlin nun mal ist: Ganz Berlin ist ein Bazar, ein gigantischer Vorort von Słubice, nur eben ein bisschen weiter entfernt. Und da spielt es keine Rolle, wer hier illegal oder legal ist, Hauptsache man kann auch was daran verdienen, und es ist noch genug Bigos im Plastikeimer.
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Author:
Alexander Wallasch