In einem Interview mit dem SWR erklärte Michel Friedman unter anderem:
„Es fehlt mir die Erinnerungskultur der drei wichtigen Generationen: die Nazigeneration, ihre Kinder, das sind jetzt um die 60-jährigen, und deren Enkelkinder. Das nennt man das kommunikative Gedächtnis. Was erzählt eine Familie aus den schlimmsten Ereignissen der Menschheitsgeschichte? Was sind die persönlichen Geschichten? Was wussten sie, wie tauschen sie sich aus?“
Meine Eltern sind keine Nazis und keine Nazigeneration, sie waren 1939 drei Jahre und zum Kriegende neun Jahre alt. Das macht sie nicht zu Teilnehmern einer Nazigeneration. Als Sohn meiner Eltern bin ich einer der 60-Jährigen, die hier ebenfalls von Herrn Friedman angesprochen werden. Und meine Kinder sind nicht meine Enkel, sondern die Enkel meiner Eltern. Ich habe bereits eigene Enkelkinder.
Meine frühsten Erinnerungen kreisen um eine Kinderlandverschickung nach Bad Rothenfelde. Das war 1968, gemeinsam mit meinem Zwillingsbruder Gregor.
Michel Friedman bemängelt das Fehlen einer Erinnerungskultur, die es nicht geben kann, allenfalls eine Gedenkkultur. Oder wenn, dann allenfalls bei meinen Eltern, welche die ersten neun Jahre ihres Lebens im Hitlerregime aufgewachsen sind. Ja, diese Zeit hat meine Eltern nachhaltig geprägt. Es war die schlimmste Zeit ihres Lebens.
Und meine Eltern waren Überlebende! Man kann sogar sagen: Auch meine Existenz, die meiner Kinder und Enkelkinder sind der glücklichen Fügung des Schicksals und einer Reihe weiterer Zufälle zu verdanken.
Ich will damit anfangen, zu erzählen an was sich meine in den deutschen Ostgebieten aufgewachsenen Eltern bis zu ihrem neunten Lebensjahr im Zusammenhang mit dem Holocaust und der industriellen Vernichtung der Juden erinnern.
Meine Mutter hat genau eine Erinnerung, die man möglicherweise mit dem Holocaust in Verbindung bringen kann. Als Sieben- oder Achtjährige ging sie mit meiner Großmutter an einem Bahnhof entlang. Auf einem entfernten Nebengleis standen Waggons, aus denen Stimmen und ein Jammern zu hören war. Sie fragte ihre Mutter verstört, was das denn sei, wurde aber wortlos zur Eile ermahnt und musste schnell weitergehen.
Die Mutter meines Vaters arbeitete in Breslau in einer Fabrik. Als sie eines Tages aus dem Toilettenfenster auf einen Innenhof schaute, sah sie dort eine größere Anzahl von Menschen mit Koffern stehen, die zusammengetrieben worden waren. Hatte sie dieses Erlebnis ihrem damals sechsjährigen Sohn erzählt? Sicher nicht. Aber sie erzählte es mir viele Jahrzehnte später, als ich sie einmal fragte, woran sie sich im Zusammenhang mit dem Holocaust erinnert.
Michel Friedman fragt: „Was erzählt eine Familie aus den schlimmsten Ereignissen der Menschheitsgeschichte?“
Das sind die persönlichen Geschichten meiner Familie zum Holocaust.
Aber ich kann Michel Friedman erzählen, was meine Eltern aus ihrer Kindheit erzählen. Was sie erzählt haben, nachdem sie von uns dazu gedrängt wurden, darüber zu erzählen.
Meine Mutter wurde vertrieben. Als Achtjährige stand sie in der Tschechoslowakei mit meiner Großmutter, ihrem Bruder und ihrer älteren Schwester an einer Wand, während sich vor ihr das Erschießungskommando aufbaute. In letzter Sekunde wurde über die Köpfe hinweggeschossen, die Tschechen amüsierten sich, wenn die Frauen zitternd das Wasser verloren und die Kinder blau anliefen vor Angst.
Meine Mutter erinnert sich auch daran, wie sie sich mit neun Jahren standhaft weigerte, die Giftpillen zu schlucken, welche Ihre verzweifelte Mutter schon für die ganze Familie organisiert hatte, nachdem jede Nacht die Aufgehängten von den Balken geschnitten werden mussten, weil sie die Quälereien nicht mehr ertragen haben. Ganze Familien, die ihrem Leben ein Ende machten. Dazu jeden Tag die Schreie der gefolterten jungen deutschen Männer im Innenhof, die anschließend der Reihe nach erschossen wurden. Täglich kamen neue Opfer nach.
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Die 15-jährige Schwester der Mutter wurde erkrankt in ein Lazarett eingeliefert, welches nachts regelmäßig vom Russen aufgesucht wurde. Und wenn der mittlerweile 97-jährigen Tante heute die Knie weh tun, dann hat das nichts mit dem Alter zu tun. Dann waren das die Tschechen, die dem jungen Mädchen auf der Flucht das Knie zerschlugen, nur so zum Spaß.
Auch mein Vater hat schreckliche Kriegs- und Vertriebenengeschichte, die man hier ebenfalls noch ausführlich nacherzählen könnte. Das sind die Geschichten meiner Eltern. Über dieses Grauen durfte nicht gesprochen werden, das kam erst viele Jahrzehnte später. Man biss halt solange die Zähne zusammen, wenn wieder die Zahl der Millionen bei Flucht- und Vertreibung ermordeten Deutschen in die Sechsstelligkeit gedrückt, wenn die Ermordeten von Dresden Jahr für Jahr weniger wurden und wenn die nächtlichen Schreie der Mütter und Großmütter zwar gehört, aber niemals mit dem Russen in Verbindung gebracht werden durften.
Ich habe erst sehr spät nach und nach verstanden, was das auch mit uns heute 60-Jährigen gemacht hat. Wir mussten noch lernen, Stimmungen zu erahnen, zu deuten und zu lesen. Warum brach der Onkel regelmäßig an Weihnachten nach einem Wutanfall zusammen? Was war da in ihm passiert, als sie seinen Vater in Plötzensee am Schweinehaken aufhängten und der 18-jährige Sohn – Sippenhaft – in ein Strafbataillon mit gewöhnlichen Verbrechern musste?
Lieber Michel Friedman, ich gehe sogar so weit zu sagen, dass ich als 1964 Geborener mehr Informationen über den Holocaust bekommen habe als meine Eltern. Erinnerungen kann es freilich keine geben, Kanzler Helmut Kohl nannte es einmal die „Gnade der späten Geburt“ und löste damit auf beiden Seiten einen Sturm der Entrüstung aus.
Ich kann Ihnen sagen, woran ich mich im Zusammenhang mit dem Holocaust erinnere: Es muss in der fünften Klasse gewesen sein. Wir waren zehn oder elf Jahre alt und der junge Realschullehrer Kapteina gefiel sich darin, an uns Kindern eine Schocktherapie anzuwenden. Es gab zwar keine Elektroschocks, aber es fühlte sich durchaus so an, als die Klassen in die Schulaula geführt wurden und eine Doppelstunde lang Filme der Leichenberge der KZs vorgeführt wurden, die sich in uns einbrannten bis hin zu den leeren Augenhöhlen, den vertrockneten Geschlechtern und den Skeletten, die auf Waggons geworfen wurden.
Viele Mädchen weinten hemmungslos, die Jungen bissen sich die Lippen blutig und der Lehrer gefiel sich sichtbar darin, Zehnjährigen diese grauenvollen Filmdokument des Holocaust in die Gehirne eingefräst zu haben. Heute würde man so etwas Kindesmisshandlung nennen, damals wagten die Eltern nicht, zu intervenieren, sie waren mit der Verdrängung ihren eigenen schrecklichen Bilder hinreichend beschäftigt. Oder sie hatten schlicht nichts von diesen Schulexperimenten an ihren Kindern erfahren.
Michel Friedman sagt weiter:
„Wenn man dann die Erinnerungskultur der 60er- bis 90er-Jahre nimmt, da war Abwehr, da war Lüge, da war Verdrängung.“
Davon haben wir heute 60-Jährigen allerdings nichts mitbekommen. Wir wurden zwangserinnert und die Mädchen weinten und man konnte es nicht abstellen, bis zum erlösenden Pausenklingeln.
Als meine Tochter an einem Schüleraustausch mit Israel teilnahm und wir auch die Eltern unserer „Gasttochter“ beim gemütlichen Zusammensein kennenlernten, kamen mir die die Bilder aus der Aula immer wieder hoch. Als ich mit dem Vater eine Zigarette rauchte, versuchte ich das Thema darauf zu lenken, es drückte doch so sehr in mir. Aber der klopft mir nur kumpelhaft freundlich auf die Schulter, sagte so etwas wie „It’s okay“ und machte uns noch zwei Bier auf.
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Author:
Alexander Wallasch