Die Absetzung des Istanbuler Bürgermeisters und wichtigsten Kontrahenten des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hat die Türkei in eine Krise gestürzt. Tausende gehen seit der Festnahme Ekrem Imamoglus auf die Straße für Demokratie – aber zunehmend auch immer mehr gegen die Regierung. Täglich werden die Demonstrationen größer. Die Regierung verurteilt die Proteste mit scharfer Rhetorik und spricht von «Straßenterror». Wohin steuert das Land?
Wer ist Imamoglu und wieso wurde er verhaftet?
Der Oppositionspolitiker Ekrem Imamoglu wurde am Sonntag inhaftiert und als Bürgermeister der politisch und wirtschaftlich bedeutendsten Metropole des Landes, Istanbul, abgesetzt. Der 2024 mit 51 Prozent der Stimmen wiedergewählte Imamoglu gilt zudem als gefährlichster Kontrahent Erdogans bei einer kommenden Wahl. Die regulären nächsten Wahlen sollen 2028 stattfinden.
Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei, lautet ein geflügeltes Wort in der Türkei, das die Bedeutung der Stadt beschreibt. Gegen den am Sonntag zum Präsidentschaftskandidaten der größten Oppositionspartei CHP bestimmten Politiker wird wegen Korruption und Terrorismus ermittelt. Sollten diese nicht aufgehoben werden, ist eine Kandidatur zum Präsidenten quasi ausgeschlossen. Imamoglu weist alle Vorwürfe zurück.
Auch in einer Reihe weiterer Verfahren, die Kritiker als politisches Vorgehen kritisieren, drohen ihm Politikverbote. Die Regierung weist die Vorwürfe, die Ermittlungen dienten ihrem politischen Vorteil, strikt von sich. Die Justiz nehme von niemandem Befehle entgegen, sagte Justizminister Yilmaz Tunc. Imamoglu wurde vergangene Woche auch sein Universitätsabschluss aberkannt – auch der ist Voraussetzung für eine Präsidentschaftskandidatur.
Wie reagiert die Regierung auf die Proteste?
Die weitestgehend friedlichen Proteste im Land wachsen von Tag zu Tag. Auch in vermeintlichen AKP-Hochburgen und dem kurdischen Südosten nimmt der Protest zu. Imamoglus Partei will den Protest so lange fortsetzen, bis ihr Parteifreund wieder auf freiem Fuß ist, sagen sie. Tragende Säule der Proteste sind in Istanbul und Ankara besonders Studenten. Immer wieder kommt es besonders bei den abendlichen Protesten zu Zusammenstößen. Bilder im Netz zeigen teilweise brutales Vorgehen von Seiten der Polizei gegen Demonstrierende.
Beobachter befürchten, dass die Regierung in den kommenden Tagen mit mehr Härte gegen den Protest vorgehen werde. Diese wirft der Opposition vor, die Straßen ins «Chaos» stürzen zu wollen. In Istanbul, Izmir und Ankara etwa sind jegliche Demonstrationen verboten.
Am Montag ging die Regierung mit einer Welle von Verhaftungen unter anderem gegen Journalisten vor. Organisationen beklagen zudem Zensur im Netz, mit dem die Regierung gegen Kritiker vorgehe.
Was bedeutet das für die politische Landschaft in der Türkei?
Experten sehen die Türkei an einem Scheidewege zwischen Autoritarismus und Demokratie. Eine derart große Protestbewegung, die sich für Demokratie und eine unabhängige Justiz starkmacht, hat es in der Türkei trotz massiver Rechtseinschränkungen seit Jahren nicht gegeben.
Kaum jemand bezweifelt, dass politisches Kalkül der Erdogan-Regierung hinter dem Vorgehen gegen seinen größten Kontrahenten steckt. Die Absetzung eines mit 4,5 Millionen Stimmen gewählten Politikers und das Vorgehen gegen zahlreiche weitere Menschen in Verbindung mit Korruptions- und Terrorermittlungen ist ein beispielloser Vorgang, der von Beobachtern als Verschärfung autoritärer Tendenzen gewertet wird, sollte der Protest dagegen keine Wirkung zeigen.
Die Inhaftierung Imamoglus steht auch für eine weitere Einschränkung der Wahlen, die als frei, aber nicht als fair gelten.
Wieso wird jetzt gegen Imamoglu vorgegangen?
Während die Regierung die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei verteidigt, wird das Vorgehen von vielen als kalkulierten Zug betrachtet. Das Land und besonders Erdogan sieht sich international angesichts der Schlüsselposition des Landes in vielen Konflikten in einer massiv gestärkten Position.
Im Ukraine-Krieg ist Erdogan einer der wenigen Politiker, der sowohl einen guten Draht zu dem russischen als aus zu dem ukrainischen Präsidenten hat. In Syrien ist die Türkei nach dem Sturz von Baschar al-Assad einer der wichtigsten ausländischen Akteure. Zudem kann Ankara seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump auch mit weniger Kritik aus den USA rechnen.
Einige Beobachter sehen das harte Vorgehen gegen die Opposition nun auch als Zeichen für Neuwahlen. Erdogan darf laut geltender Verfassung beim regulären Wahltermin 2028 kein weiteres Mal als Präsidentschaftskandidat antreten – es sei denn, das Parlament stimmt für vorgezogene Wahlen.
Erdogans Partei und ihre Regierungspartner bräuchten dazu allerdings Stimmen von anderen Parteien – etwa von der prokurdischen Dem-Partei, die am Kopf einer neuen Friedensinitiative zwischen PKK und türkischen Staat steht. Erdogan könne sich mit der Aussicht auf eine Beendung des jahrzehntelangen Konflikts Unterstützung für den Weg zu einer erneuten Kandidatur sichern wollen.
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