Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
„Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“, äußerte Willy Brandt anlässlich des Falls der Berliner Mauer 1989, wobei man nicht ganz außer Acht lassen sollte, dass dieses Zusammenwachsen uns nicht nur Gutes beschert, sondern auch Angela Merkel die Möglichkeit eröffnet hat, deutsche Bundeskanzlerin zu werden.
Doch in unseren Tagen dürfen wir ein Zusammenwachsen anderer Art verfolgen. Erst kürzlich hat der Vizekanzler mit Namen Lars Klingbeil darüber geklagt, dass „wir“ uns „selbst manchmal so klein reden“, und sich gewünscht, wir sollten doch endlich aus dem „Alles ist immer kritisch“-Modus herauskommen. Und nun erweist sich sein Kollege, der stets geradlinige und standfeste Bundeskanzler, als echter Bruder im Geiste; man könnte die beiden tatsächlich als Traumpaar bezeichnen, sofern man Albträume schätzt.
Denn auch Friedrich Merz hält ab und zu Reden, und vor wenigen Tagen hat er in Köln gesprochen. Schon seine zentrale Aussage ist es wert, festgehalten zu werden. „Hören wir doch mal auf, so larmoyant und so wehleidig zu sein in diesem Land.“ Die Ähnlichkeit zu Klingbeils Auslassungen, die Neigung zur Gesundbeterei ist unverkennbar, vielleicht wollte Merz seinem ungeheuer sensiblen Vizekanzler ein wenig die wunde Seele streicheln. In jedem Fall appelliert er an die Bürger, doch ein wenig mehr Optimismus zu zeigen, indem er auf Sitten und Gebräuche in den USA verweist, wo man eine „positive Lebenseinschätzung“ aufweise und sage: „Es macht Spaß, in diesem Land zu leben. Es macht Spaß, in diesem Land zu arbeiten. Wir wollen es nach vorne bringen und wir wollen mit Zuversicht die Zukunft gestalten.“ Worauf Merz die Frage anschließt, ob „wir uns nicht eine solche Mentalität in Deutschland auch mal angewöhnen“ könnten.
So etwa hat wohl der Kapitän der Titanic auch argumentiert, als er strikt Kurs auf den Eisberg hielt. Und auch so mancher Spieler am Roulette- oder Pokertisch sagt sich ohne Frage, er dürfe jetzt nicht „so larmoyant und so wehleidig“ sein, bald komme sicher die Glückssträhne und er müsse jetzt nur noch „mit Zuversicht die Zukunft gestalten“, und das heißt: am Tisch sitzen bleiben und auch noch den letzten Rest verspielen. Warum es Spaß machen sollte, „in diesem Land zu leben, in diesem Land zu arbeiten“, in einem Land, in dem man bei missliebigen Meinungsäußerungen Gefahr läuft, einer Hausdurchsuchung ausgesetzt zu werden, einem Land, in dem Steuern und Abgaben einen viel zu großen Anteil des Einkommens vertilgen, während die Steuern- und Abgabenzahler dabei zusehen dürfen, wie ihr Geld verschleudert wird, einem Land, in dem Arbeitsplätze verschwinden und Betriebe geschlossen werden, um ideologischen Zielen zu genügen – das erzählt uns der optimistische Bundeskanzler nicht.
Doch er weiß ja Bescheid über die Kritik und versucht, seinen Zuhörern den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er die Tücken einer Koalitionsregierung erläutert. „Ein Wahlprogramm wird nur dann komplett zum Regierungsprogramm, wenn man 50 Prozent holt. Natürlich mussten wir Kompromisse mit den Sozialdemokraten machen, wir werden auch weiter Kompromisse machen.“ Das ist eine Drohung, wie sie finsterer nicht sein kann. Kompromisse mit der SPD – nicht mit den Sozialdemokraten, denn diese SPD hat mit Sozialdemokratie nichts zu tun – sehen in der derzeitigen Koalition so aus, dass die SPD bestimmt und die CDU folgt, weil Merz weiß, dass er brandmauerbedingt keine Chance hat, in einer anderen Konstellation Kanzler zu bleiben, und sich seinen alten Lebenstraum nicht verderben lassen möchte. Der Schwanz wedelt mit dem Hund, weil der Hund es mit sich machen lässt. Dennoch meint er unverdrossen: „Gehen Sie davon aus, dass auch die Führung der SPD verstanden hat, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann.“ Das glaube ich gerne. Sollte es jemals ein Zugeständnis der SPD an eine auch nur annähernd vernünftige Politik gegeben haben, dann wird sie dafür sorgen, „dass es so wie bisher nicht weitergehen kann“ und nur noch lupenrein linksideologische Politik zum Einsatz kommt. Wer sich in der Politik so deutlich erpressbar macht, wird erpresst.
Nun soll jedoch alles besser werden, wozu hat Merz denn vor Kurzem im Bundestag den Herbst der Reformen ausgerufen? Aber ach! Daraus wird nun doch nichts! Sein Fraktionsvorsitzender Jens Spahn hat bereits zur Vorsicht gemahnt und soll nach Auskunft der FAZ „die Abgeordneten aufgefordert haben, die Erwartungen an Reformen etwa im Gesundheitswesen herunterzuschrauben.“ Denn der Herbst hat bereits begonnen, und die eingesetzten Kommissionen haben gerade einmal in aller Vorsicht ihre Arbeit aufgenommen. „Spürbare Reformen – gerade beim Sozialstaat – werden wir eher im Herbst 2026 sehen“, äußerte ein „führender Unionspolitiker“, und das heißt: Vor 2027 wird sich nichts tun. Wenn überhaupt.
Aber Friedrich Merz wäre nicht Friedrich Merz, wenn er nicht wieder einmal in markigen Worten markige Forderungen stellen würde. Insbesondere das von Brüssel beschlossene Verbrenner-Aus, das anstehende Verbot von Verbrennungsmotoren, will er nicht hinnehmen. „Meine Überzeugung ist: Wir haben das falsch entschieden und wir werden das korrigieren. Diese Technologie ist auf der ganzen Welt erlaubt und soll in Europa verboten werden? Das geht nicht.“ Deshalb werde er Brüssel „Stöckchen in die Räder halten“, so gehe das nicht weiter. Merz will Brüssel das Stöckchen in die Räder halten, man kann es sich bildlich vorstellen, wie ihm dann das Stöckchen um die Ohren fliegt. Ich darf daran erinnern, wie er mit früheren starken Forderungen und Versprechungen umgegangen ist: Ganz schnell hat er sie wieder zurückgezogen, relativiert, in ihr Gegenteil verkehrt, sobald ihm auch nur ein leiser Windhauch ins Gesicht blies. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass er hier eine Ausnahme machen sollte.
Und tatsächlich sehen wir schon, wie sich die ersten Widerstände formen. Die SPD widerspricht ihm entschieden. „Wer den Ausstieg aus dem fossilen Verbrenner infrage stellt, gefährdet die langfristige Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes und verunsichert die Wirtschaft“, sagte Sebastian Roloff, der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD. Denn „unsere Autoindustrie braucht Rückenwind für die klimaneutrale Zukunft, keinen Anker in der Vergangenheit.“ Eine Aussage, die eines wirtschaftspolitischen Sprechers der SPD würdig ist. Die Autoindustrie bräuchte tatsächlich Rückenwind, aber nicht für die Schimäre einer klimaneutralen Zukunft, sondern für eine brauchbare wirtschaftliche Entwicklung, sie steckt in der Krise – und ganz sicher nicht, weil Merz ankündigt, er werde sich für die Abkehr vom Verbrenner-Aus einsetzen. „Innerhalb eines Jahres sind dort rund 51.500 Stellen verloren gegangen, das entspricht fast sieben Prozent der Arbeitsplätze.“, verkündet sogar die Tagesschau. Das ließe sich vielleicht wieder ändern, wenn man von einer sinnlosen Energiepolitik und strangulierenden Regulierungen abkäme, die Bürokratie ernsthaft abbaute – und sich vor allem für die Aufhebung des unsinnigen und verheerenden Verbots von Verbrennern entschiede.
Selbstverständlich sieht ein SPD-Wirtschaftspolitiker das ganz anders. Und weil die SPD das so sieht, wie sie es eben sieht, wird auch Friedrich Merz es in absehbarer Zeit so sehen, da er immer das tut, was sein kleiner Koalitionspartner von ihm will. Dann wird es wieder heißen: „Ein Wahlprogramm wird nur dann komplett zum Regierungsprogramm, wenn man 50 Prozent holt. Natürlich mussten wir Kompromisse mit den Sozialdemokraten machen, wir werden auch weiter Kompromisse machen.“ Und Deutschland wird weiter ruiniert.
Genau wie Klingbeil ruft Merz zu Optimismus und guter Stimmung auf. Gründe dafür liefert er nicht und hat er nicht.
Er hat nur große Worte. Dahinter steckt nichts.
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
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