Ein Gastbeitrag von Thomas Rießinger
„A.E.I.O.U.“ – so lautet eine Devise des Habsburger Kaisers Friedrich III aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die man auf verschiedenen Gebäuden, aber auch auf seinem Tafelgeschirr findet, ohne genau zu wissen, was man damit anfangen soll. Eine weit verbreitete Auffassung sieht es als Abkürzung eines lateinischen Spruchs, von dem nur die jeweiligen Anfangsbuchstaben aufgeführt werden: „amor electis, iniustis ordinor ultor“, zu Deutsch: Zur Liebe bin ich den Erwählten, den Ungerechten zum Bestrafer eingesetzt. Der Kaiser weiß, wer erwählt und daher zu lieben ist, und er vermag auch die Ungerechten von den Gerechten zu unterscheiden – eine gewisse Neigung zum Größenwahn, derer man vielleicht zum Kaisersein bedarf, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.
Habsburger gibt es noch immer, doch ihr Kaisertum hat sich vor mehr als 100 Jahren verflüchtigt, als das Kaiserreich zerstückelt und aufgeteilt wurde. Aber auch heute existiert ein Imperium auf Europas Boden, und auch heute ist der gleiche Größenwahn zu finden, der glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein. Der Sitz des Imperiums ist nicht mehr Wien: Es ist Brüssel, das sich des zweifelhaften Privilegs rühmen darf, die Europäische Kommission zu beherbergen, insbesondere ihre umtriebige Vorsitzende Ursula von der Leyen, ausgewählt in einem dubiosen hinterzimmerbehafteten Entscheidungsprozess, gegen den die Habsburger Thronfolgeregelung als Vorgang von äußerster Transparenz erscheint.
Doch nicht nur mit von der Leyen, die sich mehr und mehr als Kaiserin des Heiligen Europäischen Reiches unbestimmter Nation zu fühlen scheint, haben wir es zu tun, sondern auch mit ihren willigen Mitstreitern. Mit Manfred Weber beispielsweise, dem Vorsitzenden der EVP-Fraktion im europäischen Parlament und von Haus aus Politiker der in alter Zeit als konservativ betrachteten CSU. Zur Europawahl 2019 fungierte er als Spitzenkandidat der EVP, der sogenannten Europäischen Volkspartei, verbunden mit dem Anspruch, bei einem entsprechenden Wahlergebnis auch den Vorsitz der Europäischen Kommission zu übernehmen. Nach der Wahl scheint ihn Reue überkommen zu haben, vielleicht war es auch nur Angela Merkel, die ihm klarmachte, dass er zugunsten von der Leyens auf seine Ansprüche zu verzichten habe – ein demokratischer Prozess, wie er im Buche steht.
Ob er diese Enttäuschung jemals verkraftet hat, weiß niemand außer ihm. Hin und wieder scheint er aber von dem Bedürfnis heimgesucht zu werden, doch einmal Kaiser Friedrich zu spielen und einigen klar zu machen, wer zur Liebe erwählt ist und wer mit Manfred Weber als Bestrafer zu rechnen hat. Vor einigen Tagen war es wieder einmal so weit. Wie wir in dem österreichischen Blatt „Die Presse“ lesen können, hat Weber, zu dessen Fraktion auch die Europaabgeordneten der ÖVP gehören, „mahnende Worte an die Fraktionskollegen in Österreich gerichtet. Sollte die Regierung mit der FPÖ zustande kommen und Herbert Kickl von Gnaden der Volkspartei Kanzler werden, sei an drei Voraussetzungen nicht zu rütteln: Der Rechtsstaatlichkeit, der europäischen Integration und der Unterstützung für die Ukraine. Das hat Weber hochrangigen ÖVP-Vertretern auch in persönlichen Telefonaten ausgerichtet“.
Ich darf daran erinnern: Weber ist ein deutscher Abgeordneter im Parlament der EU, er ist Vorsitzender einer Fraktion, zu der auch Abgeordnete der ÖVP gehören, aber er hat nichts, rein gar nichts mit der Regierungsbildung in Wien zu tun. Die österreichische Regierung wird nicht in Brüssel gebildet, sondern in Wien, und nicht von ausgebooteten Beinahe-Kommissionspräsidenten, sondern von den Verhandlern der Parteien, die es für möglich halten, zu einer Übereinkunft zu gelangen, die das österreichische Parlament gutheißt. Das scheint der Musterdemokrat Weber allem Anschein nach vergessen zu haben, und da er zu den Guten gehört oder es doch wenigstens glaubt, macht er genau das, was man derzeit so gerne Elon Musk vorwirft: Er mischt sich in die Politik eines anderen Landes ein, die ihn nichts angeht.
Sehen wir uns seine Auslassungen etwas genauer an. Sollte es in Österreich zu einer Koalition aus FPÖ und ÖVP kommen mit einem Bundeskanzler Herbert Kickl, so wäre der keineswegs Kanzler „von Gnaden der Volkspartei“, sondern umgekehrt wäre jeder ÖVP-Minister nur ein Minister von Gnaden der Freiheitlichen Partei. Denn die alternative Option, ein Dreierbündnis zusammen mit der immer marxistisch-radikaler werdenden SPÖ und den seltsam-unbestimmten, mehr oder weniger linksliberalen NEOS ist nach einem sanften Vierteljährchen der Verhandlungen gescheitert. Ernsthafte andere Möglichkeiten bleiben der ÖVP nicht, wenn sie noch den einen oder anderen Ministersessel ergattern will. Würde hingegen Herbert Kickl die Verhandlungen mit der ÖVP ins Nirwana der Ergebnislosigkeit führen, so zeigen die Umfragen, dass die unvermeidbaren Neuwahlen die FPÖ noch einmal um etliche Prozentpunkte nach oben katapultieren würde, die ÖVP dagegen einen Absturz verzeichnen müsste. Kickl als Kanzler von Gnaden der ÖVP? Lächerlich.
Doch der gefühlte Vizekaiser Europas hat den ÖVP-Granden drei Bedingungen gestellt, an denen nicht gerüttelt werden dürfe. Die erste ist die Rechtstaatlichkeit. Ein Manfred Weber aus Brüssel erinnert die ÖVP daran, dass Österreich rechtsstaatlich bleiben müsse. Weiß er, wovon er da spricht? In Polen arbeitet die Regierung eines Donald Tusk daran, den Staat vollständig unter ihre Kontrolle zu bekommen und wischt dabei die Rechtsstaatlichkeit nicht nur vom Tisch, sondern gleich in den Müll. In Brüssel sieht man das mit Freude und applaudiert. In Rumänien hat man gerade staatsstreichartig eine Wahl mit fadenscheinigen Argumenten annulliert, und der gewesene EU-Kommissar Breton gibt fröhlich zu, dass die EU dahintersteckt: „Wir haben es in Rumänien getan und wir werden es offensichtlich, falls nötig, auch in Deutschland tun müssen.“ Rechtsstaatlichkeit? Ursula von der Leyen, bedauerlicherweise noch immer Chefin der Europäischen Kommission, hat im Zuge der Impfstoffbeschaffung während der sonderbaren PCR-Pandemie dubiose SMS-Deals abgeschlossen und sich nicht im Entferntesten um rechtlich korrekte Prozesse gekümmert. Von Rechtsstaatlichkeit ist man in Brüssel so weit entfernt wie Manfred Weber von politischer Bedeutung.
Auch an der europäischen Integration will der Weltpolitiker Weber kein Rütteln zulassen; die muss festgemauert in der Erden stehen. Mit solchen Forderungen hat man in Österreich nicht die besten Erfahrungen gemacht, als man 1938 zwar nicht in Europa, aber doch in Deutschland integriert wurde und ganz ohne Frage an dieser Integration nicht gerüttelt werden durfte. Und auch in den Teilrepubliken der verblichenen Sowjetunion dürfte sich kaum jemand getraut haben, an der Integration in das sozialistische Paradies zu zweifeln oder gar zu rütteln. In Demokratien sieht das etwas anders aus. Immerhin hat Großbritannien gezeigt, dass nicht nur ein Rütteln an, sondern sogar ein Ausstieg aus der Europäischen Union möglich ist, sofern es einen demokratischen Mehrheitsbeschluss der Wähler gibt. Das demokratische Prinzip scheint bei Weber etwas in den Hintergrund geraten zu sein. Offenbar hatte der nicht gerade als EU-Gegner bekannte Martin Schulz recht, als er meinte: „Wäre die EU ein Staat und würde einen Antrag zum Beitritt in die Europäische Union stellen, dann würde der Antrag abgelehnt. Mangels demokratischer Substanz.“ Mehr als zehn Jahre alt ist dieser Satz und offenbar immer noch aktuell.
Kommen wir zur dritten unantastbaren Forderung: die Unterstützung für die Ukraine. Man fragt sich, wie die aussehen soll. Unterstützt man die Ukraine, indem man dafür sorgt, dass noch mehr Menschen auf dem Schlachtfeld sterben? Oder vielleicht eher, indem man sich an Versuchen beteiligt, den Krieg zu beenden, bevor das ganze Land ausgeblutet ist? Was Weber für eine Unterstützung der Ukraine hält, muss nicht unbedingt positive Wirkungen haben. Und wie kommt er dazu, eine wie auch immer geartete Regierung in einer außenpolitischen Frage auf eine bestimmte Haltung festlegen zu wollen? Er ist Vorsitzender einer Fraktion in einem obskuren Parlament einer zutiefst undemokratischen Einrichtung wie der Europäischen Union, was sogar schon Martin Schulz wusste. Oberdiktator von Österreich ist er nicht.
Sowohl über Rechtsstaatlichkeit als auch über Demokratie hätte Weber besser geschwiegen. Im europäischen Parlament und in der Europäischen Kommission sind beide nicht zu Hause. Hätte der österreichische Kaiser Franz Joseph beide Institutionen besuchen können, dann hätte er sich sicher verabschiedet mit den Worten „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut“, denn das sagte er immer nach einem offiziellen Termin, egal ob er erfreulich oder entsetzlich war. Und auch über Leute wie Manfred Weber hat sich Franz Joseph schon vor langer Zeit geäußert: „Ich bin der letzte Monarch der alten Schule“, soll er 1910 zum amerikanischen Altpräsidenten Theodore Roosevelt gesagt haben. „Es ist meine Aufgabe, meine Völker vor ihren Politikern zu schützen!“
Man muss kein Monarchist sein, um zu merken, dass diese Aufgabe auch heute dringend erfüllt werden müsste.
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Thomas Rießinger ist promovierter Mathematiker und war Professor für Mathematik und Informatik an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Neben einigen Fachbüchern über Mathematik hat er auch Aufsätze zur Philosophie und Geschichte sowie ein Buch zur Unterhaltungsmathematik publiziert.
Bild: Alexandros Michailidis / Shutterstock
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