Thomas Fasbender ist Autor, Journalist und Geopolitik-Experte der Berliner Zeitung. Im Interview:
Wie überrascht waren Sie über die rasanten Entwicklungen in Syrien?
Überrascht auf jeden Fall. Seit Beginn der Offensive am 27. November sind elf Tage vergangen. Das ist natürlich blitzkriegwürdig, das haben die HTS-Rebellen beeindruckend hingelegt. Seitdem verstehe ich allmählich mehr von dem, was vor sich geht.
Wir haben auf jeden Fall eine Zeitenwende. Mit dem Umsturz gingen über fünfzig Jahre Assad-Dynastie zu Ende. Und zweitens – das ist eigentlich noch wichtiger – endet die 70 oder 80 Jahre lange Phase der sogenannten Baath-Partei. Die war in ihrem Charakter sowohl panarabisch als auch säkular. Früher hat man auch gesagt sozialistisch. Weil sie eine gewisse Nähe zur Sowjetunion hatte, während des Kalten Kriegs.
Die Baath-Partei stand für einen eher säkularen arabischen Raum. Der Iraker Saddam Hussein stand anfangs ebenfalls in der Baath-Tradition. Jetzt erleben wir den endgültigen Sieg der mehr oder minder islamistischen Kräfte. Natürlich sehr unterschiedlich von Land zu Land. Aber hier geht eine Ära zu Ende.
Dann natürlich die Frage: Wer sind die Gewinner, wer sind die Verlierer? Wenn wir mit den Verlierern anfangen, sind es der Iran und Russland. Der Iran verliert die schiitische Landbrücke zum Mittelmeer. Über den Irak, die Alawiten in Syrien und die Hisbollah im Libanon. Die Alawiten sind die schiitische Minderheit, die Machtbasis der Assad-Familie. Damit verliert der Iran auch einen Teil seiner Machtprojektion Richtung Israel.
Auf der tagesaktuellen Karte wird noch ein Rest von Syrien Assad zugeordnet, dort, wo die Russen ihre Marinebasen am Mittelmeer haben …
Das ist der Raum um Tartus und Latakia. Dort lebt Assads alawitische Basis, rund 15 Prozent der syrischen Bevölkerung. Nur dass diese Alawiten keine eigene militärische Organisation haben. Deren Verteidigung lag bei der offiziellen Armee. Heute früh auf BBC hieß es, dass man dort mit großer Angst auf die Rebellen wartet. Die sind bislang nicht bis dahin vorgedrungen. Vom Schicksal der Minderheiten, auch der syrischen Christen, hängt aber ab, wie sich die Weltöffentlichkeit in den nächsten Tagen und Wochen den neuen Machthabern gegenüber verhält.
Waren Sie überrascht, dass man wieder die gleichen Sätze von einer friedlichen Übernahme hörte, wie schon bei der Rückeroberung von Kabul? Das erschien ja im ersten Moment bald wie eine Blaupause, wie man so einen Islamistensturm werblich verkaufen kann …
Wir kommen im Westen nicht von der Idee los, dass, wenn irgendwo ein Land „befreit“ wird, es danach vielleicht doch so wird, wie es bei uns schon ist. Also demokratisch und so. Das sind journalistische Illusionen. Was wichtig ist, wenn man Kabul erwähnt: Islamisten sind nicht gleich Islamisten. Und Islam ist nicht gleich Islam. Afghanistan ist insofern ein Sonderfall. Ich habe viele Kontakte in der islamischen Welt, aber ich kenne niemanden außerhalb der Taliban, der deren Politik, vor allem den Frauen gegenüber, ernsthaft begrüßt oder befürwortet. Das gilt einfach nur als rückständig, als Berg-Islam, aus den Bergen um Kandahar.
Auch der Islamische Staat IS ist etwas Besonderes. Der steht für das übernationale Kalifat. Der IS ist das islamische Pendant zum Internationalismus der kommunistischen Weltrevolution. Die HTS ist eher in Richtung nationaler syrischer Islamismus zu verorten.
Die sollen sich spinnefeind sein mit Al Quaida weil die ihren internationalen Bezug haben …
Das ist genau der Grund. Auch in Afghanistan übrigens. Der IS Provinz Chorasan ist sich spinnefeind mit den Taliban, weil die Taliban für einen afghanischen Kurs stehen. Sie sagen, das ist unsere nationale Kultur. Ähnlich ist es in Syrien. Für uns im Westen ist es natürlich leichter, mit dem pragmatischeren Islamismus einer HTS umzugehen als mit den Taliban oder dem IS.
Wie können wir die Stichworte Ukraine, Russland und USA noch in unser Gespräch einbinden?
Wie schon gesagt, Verlierer sind der Iran und Russland. Vor allem die Hisbollah zählt zu den Verlierern, ebenso wie die Hamas, die sind beide vom Iran abhängig. Die sind jetzt abgeschnitten. Deswegen zählt auch Israel zu den Siegern. Ich würde mich nicht wundern, wenn Netanjahu sagt: Jetzt schlagen wir der Hydra erst recht alle Köpfe ab.
Die große Frage bleibt doch, wie Assad fünfzehn Jahre lang halten kann, was jetzt in elf Tagen einfach zusammenbricht. Was ist die Rolle der Vereinigten Staaten?
Ich gehe davon aus, dass es da ein Zusammenspiel von USA, Israel und Türkei gibt. Dass man vor dem Hintergrund des Krieges in Palästina die Sache ganz bewusst unterstützt und mit eingeleitet hat. Zum Beispiel: Wo kommen die angeblich 500 oder mehr Nachtsichtgeräte her? Das sind ja keine ausgemusterten türkischen Bestände. Oder die neueste First-Person-View-Drohnentechnik? Dieser Blitzvorstoß wurde durch modernste Technik ermöglicht. Berichtet wurde auch von ukrainischen Kämpfern. Jetzt kann man sagen, da gehen Ukrainer hin, um für die Freiheit zu kämpfen. Söldner. Das kann aber auch ein Vorwand sein für ukrainische Ausbilder. Also dass man die hingeschickt hat, um den Rebellen die neueste Taktik beim Umgang mit Drohnen beizubringen.
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Wie muss man sich das alles zahlenmäßig vorstellen? Wie viel HTS-Leute sind das? Werden die irgendwo vorher gesammelt? Hat man sich Strategien überlegt? Wo entsteht sowas?
Es sind mindestens 10.000. Auch interessant ist: 2021 hat der neue starke Mann in Syrien, der HTS-Chef, in Idlib eine Militärakademie gegründet. Er hat 30 übergelaufene syrische Offiziere genommen und gesagt: Wir wollen hier eine professionelle Armee aufbauen. Das hat dazu geführt, dass man das Gruppendenken der verschiedenen konkurrierenden Rebellen überwunden hat. Dem HTS ist in den letzten Jahren in Idlib die Schaffung eines Protostaats gelungen. Er hat eine eigene Zentralbank und gibt sogar ein Amtsblatt heraus.
Oder unter der Protektion von wem? War das Erdogan?
Nicht unbedingt oder nicht nur. Ich schätze, dass die HTS ein ganzes Netzwerk von Unterstützern aufgebaut hat. Die USA zum Beispiel hatten anfangs die sogenannten „Syrischen Demokratischen Kräfte” unterstützt. Da hieß es zuerst, die sind ganz demokratisch. Bis man im Westen verstand, dass die nicht mehr und nicht weniger demokratisch sind, als alle anderen auch. Ich bin sicher, dass die Amerikaner die ganze Zeit über verschiedene Gruppen unterstützt haben. Wir dürfen nicht vergessen: Für Amerika ist der strategische Gegner Iran. Und Syrien war ein wichtiges Kettenglied für den Iran zur Hisbollah und zur Hamas. Wer Syrien aus dieser Kette herausnimmt, hilft zumindest vorübergehend Israel und schädigt auf jeden Fall den Iran.
Wird hier gerade Geschirr zerschlagen, aus dem Trump noch trinken wollte?
Nein, Trump wird dem Iran gegenüber eher härter auftreten. Ich glaube ohnehin, dass die beiden Administrationen – die neue und die alte in Washington – seit dem 5. November stillschweigend gut zusammenarbeiten.
Millionen syrische Flüchtlinge in Deutschland fahren jetzt alle nach Hause?
Die Stimmung, die BBC gestern Vormittag verbreitete, deutete in die Richtung. Schlangen an der libanesisch-syrischen Grenze, auch Stimmen aus der Türkei – da leben 3,2 Millionen syrische Flüchtlinge: „Wir wollen nach Hause“. Das klang schon eher optimistisch-positiv, was die interviewten Syrer erzählten.
Die Syrer in Deutschland müssen sich jetzt entscheiden: Sind sie vor Assad geflüchtet oder vor dem IS?
Zu dem Punkt würde ich einfach sagen: Wenn wir Deutschen schlau sind, dann nutzen wir jetzt die positive Motivation, helfen den Syrern nach Hause und tragen irgendwie zur Lösung bei.
Sie meinen, man müsste eine Idee entwickeln, wie man jetzt die Gunst der Stunde nutzt und die Leute motiviert, nach Hause zu fahren?
Motivieren, nach Hause zu fahren, genau. Und man muss auf Damaskus einwirken. Das Schlimmste wäre, wenn der Westen jetzt sagt: Bis wir die Sanktionen aufheben, muss in Syrien erstmal ein funktionierendes Parteiensystem existieren und ein Verfassungsgericht und am besten ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Also lupenreine Demokratie. Nein, man muss jetzt die Chance nutzen und sich kreativ etwas einfallen lassen. Ich bin sicher, dass auch die Türken versuchen, ihre gut drei Millionen Syrer so schnell wie möglich zur Heimreise zu veranlassen. Das Paradies wird es in Syrien nicht geben. Aber wir Deutsche sollten die Entwicklung als Chance sehen.
Danke für das Gespräch!
Thomas Fasbender, Jg. 1957. Industriekaufmann, promovierter Philosoph. 1992-2015 in Moskau Geschäftsführer und Unternehmer. 2015 Rückkehr nach Deutschland, seitdem Publizist. Autor mehrerer Bücher, darunter einer Putin-Biografie (2022). Seit 2023 Ressortleiter Geopolitik bei der Berliner Zeitung.
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Author:
Alexander Wallasch